Wie definierst du Nachbarschaft? Und was macht aus Sicht der Mieterinnen und Mieter eine gut funktionierende Nachbarschaft aus?
Das ist eine hochspannende Frage. Es ist ähnlich wie mit den Verwandten: Man kann sie sich in der Regel nicht aussuchen. Aber es sind die Nachbarn, denen man beispielsweise den Wohnungsschlüssel anvertraut. Bei der Nachbarschaft geschieht auch vieles zufällig, wir finden uns sozusagen in einer Schicksalsgemeinschaft wieder. Gleichzeitig ist die Beziehung zu den Nachbarn geprägt von sehr grossem Vertrauen. Man lernt Menschen aus anderen Milieus kennen. Das alleine ist schon eine Bereicherung. Streit, Schicksalsschläge, der wochenendliche Schlabberlook und alles rund um den Alltag bekommt man hautnah mit. Mit der Nachbarschaft teilt man in vielen Fällen Freud und Leid. Daraus können intensive Beziehungen entstehen. Ich empfinde das als unglaublich spannend. Oftmals wird dieser Umstand etwas geringgeschätzt. Denn die Wohnsituation ist sehr diffizil. Wenn in der Nachbarschaft etwas nicht stimmt, überlegt man sich zweimal, ob man das aushalten möchte. Für eine funktionierende Nachbarschaft muss vieles stimmen. Man muss aber auch aufpassen, dass man das vom sozialen Standpunkt aus nicht überhöht. Sozialromantik ist sicher fehl am Platz. Der Wunsch nach Anonymität und Zurückgezogenheit hat auf jeden Fall auch seine Berechtigung. Wir verstehen in unserer Arbeit die Nachbarschaft nicht als Beziehung zweier Nachbarn, sondern als Gemeinschaft aller Bewohner einer Siedlung, eines Quartiers.
Heisst das, dass ein Investor mit Renditezielen aus finanziellen Gründen auf professionelle Nachbarschaftsarbeit verzichtet?
Oft haben Bauherren verständlicherweise Respekt vor anfallenden intensiven Diskussionen und viel Arbeit. Bewohnerinnen und Bewohner entwickeln Begehrlichkeiten und Erwartungen. Sie können mitreden. Da gibt es dann halt keine halben Sachen. Die Arbeit in Nachbarschaftsprojekten ist immer langfristig angelegt. Und sie ist ein klares Bekenntnis zu den geäusserten Bedürfnissen der Mieterinnen und Mieter. Ein solcher Dialog mit Folgen für einen Teil des Projektes sowie die Verlangsamung des gesamten Bauprojekts ist aufwendig und anstrengend. Wenn ein Investor Mittel einsparen will, wird dann natürlich schnell auf so etwas verzichtet.
«Die Nachbarschaft ist ein soziales Kapital. Und das muss bewirtschaftet werden.»
Weshalb ziehen Mieterinnen und Mieter in eine Wohnung der BGZ?
In erster Linie aufgrund des tieferen Mietzinses als im nicht-gemeinnützigen Wohnungsmarkt. Denn Genossenschaften wollen mit ihren Liegenschaften keinen Profit erwirtschaften. Sie verrechnen nur eine sogenannte Kostenmiete, das heisst, lediglich so viel, wie eine Wohnung (Land, Gebäude, Unterhalt und Verwaltung) effektiv kostet. Als Genossenschaft bieten wir hohe Wohn-, Aufenthalts- und Lebensqualität in allen Bereichen. Gerade im Raum Zürich kommen viele Neuerungen im Zusammenhang mit nachhaltiger Arealentwicklung und Städteplanung von den Genossenschaften. Sie gehen bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Stadtraum neue und innovative Wege – nie getrieben durch monetäre Anreize. Das interessiert viele Mieterinnen und Mieter. Und deshalb bleibt verfügbarer und bezahlbarer Wohnraum in der Stadt.
«Bewohnerinnen und Bewohner haben oft den Wunsch, sich ihren Siedlungsraum anzueignen. Dasselbe sollte auch mit einer Arealmarke möglich sein.»
«Echte Partizipation bedeutet immer, die Konsequenzen, ob gute oder schlechte, mit zu tragen.»
Zur Person
René Fuhrimann hat über 30 Jahre Erfahrung als Soziokultureller Animator. Er ist bei der Baugenossenschaft Glattal Zürich BGZ für den Fachbereich «Zusammenleben» verantwortlich. In dieser Funktion initiiert er genossenschaftliche Nachbarschaftsprojekte und begleitet diese. Er ist überzeugt, dass die partizipative Nachbarschaftsarbeit auch in der Vermarktung von Immobilienprojekten ihren Platz hat. Vor seiner Anstellung bei der BGZ war René Fuhrimann Projektleiter von Vicino Luzern. Der Verein schafft ein Netzwerk aus nachbarschaftlichen Angeboten für ältere Menschen, das diesen ermöglicht, möglichst lange selbständig zuhause zu leben. René Fuhrimann ist 52 Jahre alt, leidenschaftlicher Stadtentdecker und lebt in Luzern.